Gibt es mehr, als wir mit dem bloßen Auge sehen können? Der großeSchauspieler Vincent Cassel meint: unbedingt.Trotzdem findet erHalt eher bei Carlos Castaneda und Jiddu Krishnamurti alsbei Gott. Ein Gespräch über die Macht von Religion und seine Angst vor der nächsten Ayahuasca-Zeremonie. Vincent Cassel hätte nach Hass nur noch Autowerbungmachen k.nnen und es wäre egal gewesen. Zumindest für Fans von Kids und Menace II Society war MathieuKassovitz’ Schwarzwei.film über Polizeigewalt,Hip-Hop und Freundschaft in den Pariser Banlieusderart prägend, dass sich der Schauspieler damit einen schier unverbrauchbaren Coolness-Vorschuss verdiente Selbstverständlich findet sich in Vincent Cassels Rollenauswahl nach seinem Durchbruch mit Hass im Jahr 1995 auch der eine oder andere Flop. Aber eben auch von der Kritik hochgelobte Filme wie Irreversible, Black Swan und Xavier Dolans Einfach das Ende der Welt. Das französische äquivalent zum Oscar, den Cäsar, gewinnt Cassel eh regelmäßig.
In seinem Heimatland gilt Vincent Cassel als Macho, ein von Gauloises und Armagnac gest.hlter Brad Pitt. Paris Match und Co finden ihn seit Ende der 1990er besonders wegen seiner Ehe mit Monica Bellucci höchst interessant. Das sp.tere Bondgirl war auch seine Filmpartnerin in Irreversible, dem nur schwer auszuhaltenden Vergewaltigungsfilm. Seit 2018 ist Vincent Cassel mit dem Model Tina Kunakey verheiratet. Das Spiel des Kampfsportlers Cassel ist extrem körperbetont. Lange Jahre trainierte er Capoeira. Mit 19 zieht es ihn erstmals nach Brasilien, um die einst von Sklaven aus Angola importierte Kampfkunst vor Ort zu lernen. Das Land von Bossa Nova und Samba hat ihn nie wieder losgelassen: Seit ein paar Jahren veranstaltet er das Onda-Carioca-Musikfestival an der französischen Atlantikküste. Wikipedia weist ihn zudem seit 2013 als Einwohner Rio de Janeiros aus. Am Telefon mit Numéro Homme Berlin stellt sich schnell heraus: der Wikipediaeintrag ist veraltet, Vincent Cassel ist vor Kurzem wieder nach Paris gezogen.
HANS BUSSERT: Sie haben lange in Brasilien gelebt: Wie haben Sie dort Candombl, eine dem Voodoo ähnlichen Religion, erlebt?
VINCENT CASSEL: Der Umgang mit Religion in Brasilien ist ein bisschen ambivalent – fast wie bei jemanden mit einer multiplen Persönlichkeit. Viele Brasilianer sind katholisch und gehen sonntags in die Kirche. Sie gehen aber auch ans Meer und werfen Blumen für Yemanjà ins Wasser, die im Candomblé die Göttin des Meeres ist. Sie bedienen sich verschiedener religiöser Einflüsse und machen daraus ihren eigenen Glauben. Christliche Ideen werden mit afrikanischem Spiritualismus verknüpft. Das ist ein sehr eigenwilliger Zugang zu Religion.
HB:Wie muss man sich eine Candombl.-
Zeremonie vorstellen?
VC:
Das zentrale Element sind die Musik und
ihr Rhythmus. Die Gl.ubigen tanzen,
und an irgendeinem Punkt gibt es immer
jemanden, der in Trance f.llt. Die Person
zuckt und stürzt zu Boden. Dann hei.t es, es
sei dieser oder jener Geist, orixá genannt,
der in sie gefahren ist. Am Ende steht eine
Erfahrung, die Heilung oder nützliches
Wissen verspricht. Es ist ein bisschen wie im
Theater, alles ist Simulacrum. Die Anh.nger
zelebrieren ihren Glauben, in dem sie die
Rituale vollziehen. Durch den Akt und den
Glauben an dessen Wirksamkeit wird dieser
wahr.
HB:
Auch beim Capoeira berichten Wettk.mpfer
immer wieder von tranceartigen Zust.nden.
VC:
Capoeira ist in erster Linie ein Spiel, kein
Wettkampf. Es geht darum, das Spiel am
Laufen zu halten. Wenn man es darauf
anlegt, seinem Gegenüber bei der jeder
Gelegenheit eine reinzuhauen, dann ist das
Spiel schnell zu Ende. Deshalb versucht man,
auf die Bewegungen seines Gegenübers
zu reagieren und ihn zu überraschen, aber
auch nicht unbedingt zu überfordern. So
steigert man sich gemeinsam hoch, bewegt
sich schneller und schneller und irgendwann
macht man Sachen, von denen man nicht
geglaubt hat, dass man dazu k.rperlich
überhaupt in der Lage ist. Und ja, das hat
dann was von Trance.
HB:
Anh.nger fern.stlicher Kampfsportarten
oder K.rperpraktiken leiten daraus oft
eine Lebensphilosophie ab. Wie ist das mit
Capoeira?
VC:
Nun, man nimmt etwas, dass potentiell
gegen einen ist und wandelt es in etwas
Sch.nes um. Natürlich kann man das als
Metapher auf’s Leben lesen. Es ist aber auch
eine Metapher für die Schauspielerei. Am
Set muss man auf alles gefasst sein. Man ist
bestm.glich vorbereitet und trotzdem wei.
man nie genau, was einen erwartet. Man
muss also improvisieren k.nnen. Das gleiche
gilt beim Surfen. Du wei.t nie genau, wie die
Welle bricht und wie sie l.uft. Also passt du
dich an den Moment an. Irgendwie gilt das
doch für alles: Man muss immer offen sein
für den Moment und versuchen, das Beste
draus zu machen.
HB:
Gibt es in Ihrer Karriere einen Film, bei dem
Sie besonders viel improvisieren mussten
– der aber auch gerade deshalb zu etwas
Besonderem wurde?
VC:
Das war Irreversible von Gaspard No.. Das
Drehbuch hatte nur zw.lf Seiten. Zw.lf
Seiten für zw.lf Szenen. Natürlich hat
Gaspard No. am ersten Tag am Set erkl.rt,
was er wollte. Als ich fragte, wie lange
die erste Szene sein sollte, antwortete er:
alles zwischen zwei und zwanzig Minuten.
Dazwischen gibt es viel Platz. Viel Platz
für Improvisation – gerade, weil es keinen
gescripteten Text gab. Ich war oftmals
überrascht von mir selbst und von dem, was
ich da spielte. Aber auch wenn es einen Text
gibt, den man auswendig lernt, ist Schauspiel
immer Improvisation. Wie betont man etwas?
Wie spielt man beim Sprechen? Wie reagiert
der Partner? All das ver.ndert das Ergebnis.
HB:
Sind Sie ein religi.ser Mensch?
VC:
Nein, überhaupt nicht. Aber mich fasziniert
der menschliche Glaube. Religion ist imme
Teil der Kultur eines Landes. Selbst wenn
man nicht daran glaubt, ist man doch mit
den Geschichten konfrontiert, die sich die
Gl.ubigen erz.hlen, um sich das Leben zu
erkl.ren und es auszuhalten. Darüber erf.hrt
man viel über die Befindlichkeiten eines
Landes. Also finde ich Religion per se erst
einmal interessant. Für mich selbst k.men
aber eher Ideen von Carlos Castaneda oder
von Jiddu Krishnamurti in Betracht.
HB:
Warum gerade die beiden?
VC:
Letztendlich ist es das Gleiche wie beim
Capoeira. Es geht darum, dem Leben
m.glichst offen gegenüber zu treten. Keine
Pl.ne zu haben oder zumindest keine, die
zu verwerfen man nicht bereit ist. Sich
selbst und seinen F.higkeiten zu vertrauen.
Sich aber auch von Moralvorstellungen zu
befreien und die Dinge für sich selbst zu
bewerten. Das entdecke ich am ehesten bei
Castaneda und Krishnamurti.
HB:
Ich nehme an, dass deren Lehren erst sp.ter
in Ihrem Leben eine Rolle spielten. Welchen
Stellenwert hatte Religion in Ihrer Familie?
VC:
Meine Eltern waren christlich-jüdisch
gepr.gt. Aber Religion hatte bei uns zuhause
keine so gro.e Bedeutung. In dem Pariser
Viertel, in dem ich aufwuchs, lebten viele
Muslime. Damals gab es einen entspannteren
Umgang mit der Religion. Das hat sich erst
mit der Zeit ver.ndert, einige Leute haben
sich einer strikteren Anwendung ihres
Glaubens zugewandt. Früher gab es diesen
Hardcore-Ansatz nicht. Zumindest habe ich
das so nicht erlebt.
HB:
In Hass, Mathieu Kassovitz’ Film von 1995,
in dem Sie einen Jugendlichen aus den
Banlieus spielen, wird Religion gar nicht
thematisiert.
VC:
In den 90er-Jahren haben sich die Leute
darüber einfach keine Gedanken gemacht.
Man sprach zumindest nicht drüber. Meine
Generation hat erst nach 9/11 wieder damit
angefangen.
HB:
Sie sind also nicht religi.s. Würden Sie
sagen, dass Sie trotzdem spirituell sind?
VC:
Ich bin kein Atheist. Ich sehe mich
eher als Agnostiker. Religion ist immer
menschengemacht. Mein Verh.ltnis zur Welt
definiert sich durch meine Erfahrungen und
dadurch, wie ich durchs Leben gehe. Den
gr..ten Respekt habe ich vor dem Leben
selbst. Und ich glaube, dass da mehr ist,
als wir mit dem blo.en Auge sehen k.nnen.
Unbedingt. Das haben mich auch meine
Erfahrungen mit psychotropen Pflanzen
wie Ayahuasca gelehrt. Das Unbewusste,
die Bilder und Archetypen, die wir mit uns
herumtragen, sind unglaublich m.chtig.
HB:
Nun eignet sich eine Ayahuasca-Zeremonie
nicht als t.gliches Gebet.
VC:
Das stimmt. Das Erlebnis war für mich jedes
Mal wahnsinnig intensiv. Auch wenn meine
letzte Zeremonie ungef.hr zehn Jahre
zurückliegt – wenn mich heute jemand
anriefe und sagt: Wir nehmen morgen
Ayahuasca, h.tte ich ziemliche Angst. Man
wei. einfach nie, was einen erwartet. Das
Erlebnis h.ngt immer davon ab, wie einem
gerade geht und wo man steht in seinem
Leben. Aber ich zehre auch immer noch von
diesen Erlebnissen. Man lernt, dass es sowas
wie Normalit.t eigentlich nicht gibt im Leben.
Normalit.t ist das, was wir dazu erkl.ren.
HB:
Wir haben vorhin über Geister gesprochen.
Hatten Sie jemals das Gefühl, dass Ihnen
jemand etwas B.ses will, wenn Sie mal eine
schlechte Phase hatten?
VC:
Nein. Aus dem einfachen Grund: Ich glaube
nicht an Geister.
HB:
Sie hatten also keine Angst vor der Voodoo-
Puppe, die unser Fotograf mit am Set hatte?
VC:
(Lacht). .berhaupt nicht. Aber auch das
war für mich ein klassischer Fall, irgendwo
hinzukommen, nicht zu wissen, was einen
erwartet und trotzdem das Beste draus
machen. Ich würde sagen, es hat geklappt.
Interview: Hans Bussert
Fotos: Joe Lai
Dieser Beitrag erschien in der zehnten Ausgabe der Numéro Homme Berlin.